Achtsam unterwegs in den Ötztaler Alpen

 Sonnengrüße im Angesicht des Sonnenaufgangs, Dehnungsübungen und Yoga-Asanas zu den Themen Luft, Wasser und Feuer, Meditationsübungen auf einer blumenreichen Almwiese, Tanz der 5 Rhythmen in 3.000 Metern Höhe, und "dazwischen" tiefe Schluchten mit schäumenden Wildbächen, ein Bergaufstieg mit 1.100 Höhenmetern bis an den Rand der sterbenden Gletscher, garniert mit furchterregenden Schneefeldern und drahtseilversicherten Stiegen: mit der Bergtour "Achtsam die Ötztaler Bergwelt entdecken" konnte jede*r Teilnehmende persönliche Grenzen verschieben, Inspiration tanken, neue Horizonte entdecken, Kameradschaft erleben und für sich erfahren, ungeahnte Herausforderungen mit mentaler Stärke anzugehen. Kurzum:

Die Fünftagestour bot weit mehr als eine hochalpine Hütte-zu-Hütte-Wanderung.

Es war eine neue Erfahrung. Auch für uns als Leitungsteam war es ein Novum, die Elemente von hochalpinem Unterwegssein, vier reservierten Hüttennächten, Achtsamkeit und Yoga zu verbinden. Unterwegs im Anfängergeist konnten wir studieren, kombinieren und hatten Entscheidungen zu treffen, gerade dort, wo es holperte, sich Grenzen zeigten oder sich Neues auftat. Dieser „Anfängergeist“, eine Grundhaltung der Achtsamkeit und buddhistischen Meditationspraxis, ermöglichte uns allen mit kindlicher Neugier zu spüren und zu staunen, und öffnete uns den Raum für die Demut und das Reifen. Die Teilnehmenden beschrieben es so: Das Erlebte war ein abwechslungsreicher Querschnitt für das alpine Unterwegssein, von allem etwas, landschaftlich, physisch und mental, überwältigend, ein Abenteuer mit Höhen und Tiefen und Kontrasten.

Katrin (GRH) erzählte, dass sie besonders den inneren Reichtum der Berge genießt und viele schöne Bilder in die Räume ihrer Seele wanderten. Jochen schilderte: „In der Natur kann ich am besten ich selbst sein“ und Doudou ergänzte: „In der Natur trau ich mir mehr, Fragen zu stellen“. Anke entdeckte für sich das Yoga, „Bergsteigen und Yoga, das passt einfach zusammen“, war ihr Fazit. Susanne faszinierte das Zusammenspiel von den schroffen Bergen und den kleinen filigranen Blumen und Insekten, die sie liebte zu fotografieren. Ute entdeckte die Mikroskop-Funktion ihres Fotoapparates und Egon zeigte sich als freundlicher Gruppenfotograf, der auch den von Katrin (CB) kreierten Gruppentanz filmte (s. Blogbeitrag). Einen Wanderleiter dabei zu haben, der sich so gut in Botanik und Geologie auskennt, war ein Geschenk, ebenso Katrins (GRH) Kräuterwissen.

Katrin (CB) machte gleich am ersten Tag ihre eigene Grenzerfahrung, indem sie schon bei der ersten Steigung Atemnot spürte. Sie merkte, wie sehr sie die Höhenlage und Kilometer unterschätzt hatte, und lange nicht so trainiert war, wie sie dachte. Wacker kämpfte sie sich hinauf zur Vernagthütte (2.755 m), entlastet von ihrem Rucksack, den andere trugen, und doch beschrieb sie ihr Gefühl: „Es war wie Nahtoderfahrung.“ Im Spüren der Grenzen reifte in ihr der Entschluss, ihrem Körper mehr Achtung zu geben. Und mit dem Rauchen aufzuhören. In den nächsten zwei Tagen, in denen sie ihren eigenen Weg ging, fand sie das eigene Maß, lief in dem Tempo und die Weglänge, die ihr zusprachen und merkte, wie sie auch hier ihre Fitness steigern konnte. Das eigene Maß war auch Thema der Anderen, die den mächtigen Aufstieg am ersten Tag als sehr fordernd erlebten. So gab es Protest und wir lernten, dass eine Tagesetappe bei einer solchen Tour nicht über 4 Stunden reine Wanderzeit hinaus geplant sein sollte. Beim nächsten Mal würden wir auch eine Yoga-Wander-Tour in einer sanfteren Alpenregion oder in der Sächsischen Schweiz anbieten.

Folglich planten wir für den zweiten Tourentag einen leichteren Streckenverlauf. Da die alternative Route über Vent führte, gönnten sich die meisten der Gruppe den Panoramaweg hinüber zum Hochjoch-Hospiz, um von dort durch die Felsenschlucht zum Gasthof Rofen zu wandern. Katrin (CB) und Egon wählten die Aufstiegsroute vom Vortag und waren eine halbe Stunde früher am Rofen, um zu Mittag zu speisen. Zum Abschied von Katrin gab es noch eine Übung im achtsamen Schmecken eines getrockneten Mangostückchens. Dann bogen wir ins Nachbartal ein und mühten uns den schier endlosen Fahrweg zur Martin-Busch-Hütte (2.500 m) hinauf.

Mit Yoga begrüßten wir das Kaiserwetter zum dritten ToTour105 0yo 20210723 Susanne Dreieck awo 600urentag, der uns durch alle Bergklimazonen hoch hinausführte. Zum Ramoljoch waren fast 1.100 Höhenmeter zu überwinden. Wir ließen es gemütlich angehen. Vor dem Aufstieg widmeten wir uns dem achtsamen Hören und spürten den Geräuschen um uns und in uns nach. Wir bestaunten ohrenbetäubende Wildbäche, blühende Weidenbüsche, bunte Bergkräuter und liebliche Almmatten. Dort auf halber Höhe legten wir eine einstündige Mittagsrast ein und hielten Mittagsschlaf oder praktizierten Yoga al gusto: Baum, Tänzer, Krähe, Pfau, Kerze, Kopfstand usw. Weiter oben lockte ein Gletscherbach zum Baden, und alsbald überdeckten Schneefelder den Wanderweg. Die waren zwar nicht steil, doch Kai-Uwe erklärte, was zu tun sei, wenn man ins Rutschen kommt. Es bildete sich mit Egon, Anke und Jochen eine Vorhut, die es hinter sich bringen wollte und den Hüttenwirt bat, das Abendessen warm zu halten...

Im Einfachen die Tiefe finden. Das war Susannes Ansatz bei ihren Yogaübungen, mit denen sie überzeugte. Sie verriet uns in der Abschlussrunde einen von ihrem Freund empfohlenen Leitsatz: KISS - Keep it simple, Susi. Das eigene Maß finden - wie gehe ich mit Grenzen um: Nehme ich sie wahr, sage ich der Grenze von Ferne Hallo, bleibe ihr fern, möchte ich sie achtsam ein wenig erweitern, oder bin ich der, der sie übergeht und dann im Zusammenbruch den Körper rebellieren oder aufgeben erlebt? Egon mit seinen 78 Jahren ging in seinem eigenen stetig bedächtigen Schritt, lief voran bei der Ersteigung des Ramoljochs und faszinierte Ute damit, dass er auch gerne etwas von seinem Tragegewicht abgab, sein Schlafsack im nächsten Rucksack verschwand: Sich selbst fordern ohne einsames, verbissenes Heldentum - welche Kunst.

Tour105 08 210724 Hast und Rast kul 600Doudou erlebte ihre persönliche Herausforderung bei den Schneefeldern, die ihr - noch unbekannt im Begehen - gehörigen Respekt abforderten. Erst wollte sie nur noch durchkommen, überwand dann ihre Angst, konnte den Blick heben. Zum Ende gestärkt im Selbstvertrauen bereitete es ihr sogar Spaß, wie Kai-Uwe ihr beim Drahtseil versicherten Abstieg zeigte, wie sie am besten die Füße setze. Auch Susanne spürte die Herausforderung, merkte, wie hellwach ihre Sinne waren, so dass noch in der Nacht auf dem Hochbett ihr Körper sich der Kletterei erinnerte. Sie erlebte die Ermutigung, die darin lag, dass sie spürte, dass Kai-Uwe es ihr zugetraut hatte, dass sie es schaffte - und sie schaffte es mit Bravour. Nicht zu vergessen Jochen, der fast am Ramolhaus (3.006 m) angekommen, obwohl müde, noch einmal zurückging, um den Nachzüglern zu helfen.

Sehr früh am Morgen zerrte uns ein elektronischer Wecker auf die Terrasse, damit unsere Sonnengrüße die Sonne wecken. Bizarr. Die Sonne tat uns den Gefallen. Nach dem Frühstück lud Ute zum spielerischen Tanz der 5 Rhythmen ein, bei dem 5 Stücke gespielt wurden, zu denen jede*r selbst Bewegung spontan improvisieren konnte, von verhalten bis expressiv, je nachdem wie es einem gerade zumute war. Jede*r die wollte, konnte für sich entdecken, welcher Rhythmus vertraut ist, welcher schwer fällt, welche neue Bewegung entstehen mag zu den Rhythmen, die einem universellen Energiemuster folgen: Fließen (Geburt, weiblich), Staccato (Kindheit, männlich), Chaos (Pubertät, Rhythmen brechend), Lyrik (eigener Stil, Reife) und Stille (Ruhe, Ernte, Tod).

Danach hieß es hurtig Abschied nehmen und zur Piccardbrücke abzusteigen. Diese wurde 2016 mit 138 m Spannweite unweit von der Stelle errichtet, wo 1931 der Stratosphärenballon mit Prof. Piccard und Paul Kipfer notgelandet ist. Nur, dass damals der mächtige Eispanzer des Gurgler Ferners mit ordentlicher Schneeauflage die Landung elastisch abfedern konnte. Heute offenbart das Gelände eine tief gefräste Schlucht. Immerhin: Rechts und links davon befinden sich etagenweise farbig marmorierte Gletscherschliffe mit Moortümpeln und viel Wollgras. Unsere Hobbyfotografen waren von der Fülle an Motiven überwältigt. Doch auch die filigran wirkende Hängebrücke mir 16,5 t Stahl wurde hinreichend abgelichtet.

Der finale Abstieg ins Langtal und zur Langtalereckhütte (2.450 m) machte botanisch große Freude: Gentiana punctata, Alpendost, -helm, -rose, klebrige Primel, Soldanelle, Kerners Läusekraut, Gestutztes Läusekraut, Katzenpfötchen und wer weiß noch was ... Putzig: Auf den letzten Metern zur Hütte begann es sanft zu regnen. Georg freute es: Seine Gäste lassen sich von ihm verwöhnen. Und er bietet uns geräumige Zimmer für die Nacht. Als Katrin (CB) wenig später zu uns stößt, hat sie nicht nur viel zu berichten, sondern endlich die Gelegenheit, ihre Choreografie des Gruppentanzes mit uns allen zu erproben. Da wird sogar die liebe Sonne neugierig und blinzelt an den Wolken vorbei uns zu.

Tour105 007 20210725 Wasserfall Zirbenwald awo 450Das Miteinander in der Gruppe wuchs mit dem Teilen von schönen Erfahrungen, Annehmen von Konflikten und Überwinden von Schwierigkeiten. Nicht Konkurrenz, sondern gegenseitiges Bereichern. Spüren was ich und der/die andere braucht. Immer häufiger machten in den Pausen die Kekstüten, Nussdosen oder Mangoscheiben die Runde. Auch Ankes Gespür und Fähigkeit, darauf zu achten, dass keiner im Gespräch ausgeschlossen ist, umrundete das Miteinander. Kai-Uwe nahm für sich mit: „Ich muss nicht gleich sagen, dass ich es dann ganz lasse, wenn einem was nicht gefällt.“ Gerade Ute war fasziniert von den Prozessen und den Entwicklungen. In ihr reifte der Wunsch, die Ausbildung zum DAV Wanderleiter zu absolvieren, ein Gedanke, den nicht nur sie hatte. Auch die Idee, eine spezielle Yoga-Wanderung für Frauen anzubieten, wurde geboren.

Wie stelle ich mich dem, was mir begegnet: Am ersten Abend bot Ute aus einer Laune heraus an, dass sich jede*r einen Teebeutel aus ihrer reichhaltigen Teebeuteltüte ziehen durfte. Wem das Gezogene nicht gefiel, konnte es zurückgeben und neu ziehen. Nur eine Teilnehmerin machte Gebrauch vom nochmaligen Ziehen und zog bei den vielen unterschiedlichen Teesorten noch einmal dieselbe Sorte heraus, beschließend diesen Beutel nun zu behalten. Wofür dieser Zufall ein Sinnbild sein könnte, mag jede*r in eigener Wahrheit verstehen.

Fazit: Die gelebten Momente der Achtsamkeit: das Sein im Moment der Gegenwart, dem Jetzt und Hier; zu spüren, was ist und dabei alles zulassen, was entstehen mag; willkommen heißen, was kommt, und nicht bewerten. Im Einklang mit der Natur und uns selbst die vielseitigen Landschaftsgegensätze genießen und unseren Blick immer wieder nach innen richten. Dabei unsere Sinne wecken, wenn wir den Zirbenduft riechen, unsere Lebensfreude teilen, wenn uns die Sonne anlacht, in Bewegung kommen, wenn wir den Berg erklimmen, unseren Rhythmus finden, wenn wir unseren Atem beobachten, den Energiefluss spüren, wenn wir das kühle Bergwasser trinken. Auch der weitere Text der Tourenausschreibung liest sich jetzt in der Vergangenheitsform: Wir wanderten durch die alpine Bergwelt des hinteren Ötztals, atmeten frische Höhenluft, trainierten unseren Kreislauf und bestaunten die Natur in Dankbarkeit für den Gastraum, den sie uns bot.

Tipps, Angebote und ein Bergpodcast „Achtsam in die Berge“ findest Du zur DAV Kampagne „Spüre dich selbst“:

Weitere Fotos (und auch  der GruppenTanz) sind in der Fotogalerie.zu finden. (Nur für angemeldete Nutzer!)